Fahrradtour durch die Mecklenburgische Seenplatte

By Published On: 12. Februar 2023

Gänsetrupps ziehen als schnatternde Pfeilformation gen Süden. Aromatischer Pilzgeruch steigt aus den Moosteppichen der Kiefernwälder. Das Röhren der Hirschbullen dringt bis in die Dörfer. Der mecklenburgische Herbst betritt die Bühne für unsere Fahrradtour durch die Seenplatte.

Der Mitarbeiter der Tourismusauskunft in Waren nimmt eine Fahrradkarte aus dem Prospektständer. Gemeinsam wird die Radstrecke zwischen Waren und Krakow am See gesucht. „Hier lang“, zeigt der Mann im bordeauxroten Polohemd auf einen grünen Flecken in der Karte. „Sehr viel Natur. Sehr schön.“, kommentiert er.

Über dem handtellergroßen Gebiet auf der Karte steht in großen Buchstaben „Schwinzer Heide“. Mitten durch führt der 55 Kilometer lange Teil des Fernradwegs Berlin—Kopenhagen, eine der bekanntesten Fahrradtouren durch die Seenplatte. Bis nach Krakow gibt es kaum Ortschaften. Sogar Straßen und Wege sind spärlich. „Was gibt es dort Besonderes?“, fragt der Gast. Eine Kollegin vom Nachbarschalter ist jetzt auch  interessiert und blickt herüber. Auch sie würde wohl gern hören, welches Geheimnis es dort zu lüften gibt, zehn Kilometer nördlich von Waren. Eine Terra incognita – fremdes Land, selbst für den Fremdenservice.

Das waldeinsame Niemandsreich im Hinterland der Müritz. „Sehr viel Natur. Sehr schön.“ Die wenigen Worte sind wie ein Versprechen auf ein Abenteuer. Zwei Tage, eine 130 Kilometerrunde. Immerhin beruhigend, dass ein paar Dorfschenken auf dem Weg durch das dichte Grün liegen.

Jabel gegen Kogel bei Röbel

Beeilung ist geboten. Bis 15 Uhr muss die erste Teiletappe nach Damerow überwunden sein. In dem Dorf, eine knappe Radelstunde von Waren entfernt, werden die Wisente gefüttert. Den zottigen Urrindern, die um ein Haar in den 1950er Jahren ausgestorben wären, kommt man hier zum Greifen nahe. Von kleinen Tribünen aus beobachten die Gäste, wie sich die Herde aus dem Wald der Futterstelle nähert. Tagsüber durchstreifen die 35 kräftigen Tiere das Dickicht ihrer Halbinsel, dem Damerower Werder. Das 320 Hektar große Reservat existiert seit 1957 zwischen Kölpinsee und Jabeler See.

„Wir füttern die Herde nur, damit unsere Gäste etwas zu gucken haben“, sagt der Tierpfleger vom Wisentreservat nach der Fütterung. „Die finden in der Natur ja eigentlich genug.“ Familien und Rentner schauen über das Gatter und beobachten die Rangfolge in der Herde. Der Angst einflößende Bulle kommt als Erster an seinen Trog. An sechs weiteren Behältern postieren sich die nächst Stärkeren. Ganz zum Schluss trottet eine Kuh mit drei Kälbern im Schlepptau zu der Stelle, wo jeden Tag Wasser und Schrot verteilt werden. Der Wärter erklärt: „Im Winter holen wir die Wisente rein. Die Biester hauen sonst übers Eis ab.“ Seelenruhig widmet sich der Mann nach der Verteilung des Futters aus seinem Eimer, den Fragen aller Gäste.

Unterwegs auf einer Fahrradtour durch die Seenplatte im Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide. Seine Fläche beträgt 365 Quadratkilometer, knapp zwei Drittel davon bestehen aus Wald.

Unterwegs im Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide. Seine Fläche beträgt 365 Quadratkilometer, knapp zwei Drittel davon bestehen aus Wald.

Geheimtipp bei den Wisenten

Den schönsten und seltensten Blick auf die Herde gewinnt, wer sich im Morgengrauen aufmacht, erklärt ein Dorfbewohner aus Jabel, dem nächsten Dorf. Dazu muss man mit einem Kanu in die Nähe des schilffreichen Ufers paddeln. Im aufsteigenden Nebel kommen die Tiere zum Saufen. Eine unerhörte Beobachtung – beinahe „Sielmann-sublim“. In Jabel stehen sich eine Backsteinkirche und der geklinkerte Pfarrhof gegenüber. Ernst Reuter, der Plattdeutsch-Dichter, machte hier fünf Wochen Urlaub und besang Land und Leute. Seit damals scheint das Land in Dornröschenschlaf gesunken.

Mehr los ist auf dem Bolzplatz. Auf der Terrasse des Gasthauses Quisana hat man einen Logensitz. Tore fallen am laufenden Band. Es gibt Pflaumenkuchen. Selbst gebacken, das schmeckt man. Auch das Spiel unterhält köstlich. Der SSV Jabel empfängt an diesem Samstagnachmittag den SG Traktor Kogel, Kreisliga Mecklenburgische Seenplatte. Die Gäste führen 4:2, spielen aber mit einem Mann weniger. Jabel verkürzt. Noch 15 Minuten. Beide Trainer sind aus dem Häuschen. Wo liegt dieses Kogel eigentlich? „Bei Röbel“, erklärt die Wirtin. Auf der anderen Seite des Sportplatzes kreuzt eine Segelyacht. Zumindest die Lage des Stadions ist Champions League. Den Gastgebern hilft das nicht. Jabel verliert knapp geben Kogel bei Röbel.

Verführerische Pilze auf der Fahrradtour durch die Seenplatte

Hinter dem Ortsschild verlässt der Fernradweg das erste Mal den Asphalt. Auf großen Holzbohlen am Wegesrand steht „Naturpark Schwinzer/Nossentiner Heide“. Das unbekannte Grün auf der Karte ist erreicht. Schon nach wenigen Kilometern hat sich die Spur der Berlin-Kopenhagen-Markierung verloren. Verfahren. Sandiger Weg und dunkler, dichter Mischwald. Hierhin zieht man, um das Gruseln zu lernen. Schnell ist der Navigations­fehler entdeckt, dank der in Waren gekauften Karte. Einfach weiterfahren, durch tiefen Wald in harz-schwangerer Luft. Die Nebenwege, das ist mehr als beruhigend, sind erstaunlich gut mit Wegweisern gekennzeichnet.
Am sogenannten Bergsee verändert sich der verwunschene in einen zauberhaften Märchenwald. Auf einem Baumstumpf im Wasser will man stundenlang auf den Schwan warten, der zum anderen Ufer trägt. Doch es kommt nur die Dunkelheit und es heißt wieder Beeilung.

Mitten im Nirgendwo

Der nächste Punkt auf der Karte ist Malkwitz, eine Handvoll Häuser, wo sich einst zwei regionale Handelswege kreuzten und die Fuhrleute in der Straßenschenke tranken. Das einzig Bemerkenswerte am Malkwitz der Gegenwart ist das Ortsausgangsschild. „Nordpol“ steht dort als nächste Ortschaft angeschlagen. Wer nach Norden weiterfährt, kämpft sich bald auf nur noch einer Radspur durch moorastige Wiese. Nebenan ruht einer der großen Quellseen der Nebel, die 50 Kilometer stromabwärts in die Warnow mündet.

Die Sonne ist verschwunden, als sich das kleine Fahrradlicht einen Weg über das Straßenpflaster sucht. Quartier soll es erst ein Dorf weiter geben, doch aus den Häusern in Hohen Wangelin strömen Düfte, die den abendlichen Wanderer ins Schlingern bringen: in Speck und Zwiebeln gebratene Steinpilze, Maronen und Pfifferlinge. Leider öffnet sich keine Haustür mit Mütterchen, das den Fremden an den gedeckten Tisch bittet.

Zu Gast beim Krimischiftsteller

Im Gegenteil: Angekommen in Linstow, gilt es, um Nachtasyl zu flehen. Sämtliche Ferienzimmer sind an dem schönen Altweiberwochenende belegt. Einige Vermieter haben schon Saisonschluss. Torsten Dietzel, Herr des alten Gutshauses, schüttelt den Kopf. Im freundlichen Pastell seines Gastraums wird bei einem Spitzen-Menü der neue Schlachtplan für die Nächtigung überlegt. Weiterfahren zum Campingplatz in Krakow? Das sind noch einmal 15 Kilometer durch die Stockfinsternis. Gutsherr Dietzel hat eine bessere Idee und holt einen Bekannten aus dem Nachbardorf an die Strippe.

Fahrradtour durch die Seenplatte: Das Fachwerk-Gutshaus im Linstower Ortsteil Glave stammt aus dem 18. Jahrhundert, 1994 wurde es restauriert.

Das Fachwerk-Gutshaus im Linstower Ortsteil Glave stammt aus dem 18. Jahrhundert, 1994 wurde es restauriert.

Über einen Feldweg geht es entlang eines Sees auf unserer Fahrradtour durch die Seenplatte, der in Sternenglanz getaucht ist. Fünf Häuser und ein kläffender Hund kommen in Sicht, soweit die Nacht es erkennen lässt. Der Empfang im kleinen Gutshof ist herzlich. Das Haus steckt voller alter Bücher und in der Dachmansarde findet sich ein frisches Federbett. Am nächsten Morgen lüftet sich das Geheimnis der vielen Bücher. Hier wohnen die Nachfahren eines mecklenburgischen Schriftstellers, der auf dem Gehöft vor Jahrzehnten seine Jagd- und Kriminalromane aufschrieb. Die Zeit drängt. Ein Wiedersehen mit den Bewohnern wird verabredet. Nie hätte man ihre Gastfreundschaft im spröden Mecklenburg erwartet.

Inzwischen rollt der Fernradweg wieder unter dem Reifen auf widerstandsarmen Asphalt. Vorbei an Mecklenburgs mächtigster Buche lädt ein Aussichtsturm wenige Ecken weiter zum Stopp ein. Der sogenannte Paradiesblick eröffnet sich über den inselreichen Krakower See. Bis nach Krakow wäre es jetzt nur ein Stündchen. Aber hinter der einstigen Postkutschenstation in Serrahn biegt das Durchbruchstal der Nebel ab. Wer die Zeit hat, sollte zumindest der kleinen Waldschlucht bis nach Kuchelmiß folgen. Im Scheunenverkauf an der alten Wassermühle gibt es Zünftiges. Gestärkt mit einem Glas Würzfleisch geht es zurück auf den Fernradweg.

Honeckers Taiga

Als Krakow erreicht ist, erkennt man an den Bootshäusern, Kfz-Kennzeichen und Eisbecherpreisen sofort, dass die Wildnis inzwischen durchmessen ist. Krakow ist der westliche Zivilisationsrand am mecklenburgischen Outback. Bis hier hin haben sich die Geradlinigen, Fleißigen und Allzu-Normalen vorgebaut mit ihren Dampfer­ablegern, Strandpromenaden und einem Sternekoch. Einst bauten sich die Güstrower und Rostocker hier ihre Datschen. Jetzt sind es bunte Bungalows im skandinavischen Ferienstil.

Hinter Krakow am See führt unsere Fahrradtour durch die Seenplatte über einen Straßendamm zwischen Krakower Unter- und Obersee wieder an das Ostufer. Dort, wo Natur und die Kultur seit Jahrhunderten um die Vormacht ringen. Derzeit gewinnt die Natur wieder die Oberhand. Viele Häuser verfallen. Gewerbe sieht man kaum.

Einst hatte der Mensch die Landschaft ganz im Griff. Räucherte aus den Bäumen Teer und Holzkohle. Schmolz Glas aus Quarz und Kalk. Schafe und Rinder weideten die Rodungsflächen. Ein Kloster führte beflissen die Geschäfte der Region. Noch vor 300 Jahren war diese Landschaft keineswegs so gottverlassen, wie sie heute wirkt. Doch die Waldmanufakturen verloren im 19. Jahrhundert an Bedeutung.

Auf dem Fernradweg in Jabel, ab hier heißt es: Asphalt? Fehlanzeige. Beschilderung im Naturpark Nossentiner Schwinzer Heide

Auf dem Fernradweg in Jabel, ab hier heißt es: Asphalt? Fehlanzeige.

Schwinzer Heide

Die Landschaft wurde so einsam, dass Erich Honecker hier eines seiner Jagddomizile unterhielt. In einem Revier, dass für DDR-Verhältnisse fast so groß anmutet wie die Taiga. Sogar im Drewitzer See, an dem Honeckers ehemalige Forstresidenz steht, soll sein Staatsschutz Kameras installiert haben. Die ganze Schwinzer Heide war für den ersten Mann der DDR abgeriegelt, auch wenn dieser höchst selten anreiste.

Von dieser Vergangenheit kann einer der Ranger des Naturparks erzählen. Ihn und seine Kollegen trifft man im Karbower Meiler. Hier, an der Nordspitze des Plauer Sees, befindet sich der zentrale Informationspunkt des Naturparks Schwinzer Heide. Eine ausführliche Ausstellung begleitet die Naturtouristen. Wer etwas über den großen grünen Flecken auf der Karte wissen will, ist hier am richtigen Ort. Hier ist die dafür zuständige Stelle.

Auf Empfehlung des Parkrangers führt die Fahrradtour durch die Seenplatte weiter am östlichen Ufer des Plauer Sees bis nach Lenz. Für einen kurzen Halt lohnt es sich, bei den Fischern in Alt Schwerin vorbeizuschauen. Hier gibt es geräucherte Forelle aus dem See. Aber auch die entsprechenden Köderwürmer zum Selbstangeln.

Zwischen Malchow und Klink

Über Malchow, eine Inselstadt mit einmaligem Orgelmuseum, geht es am Ortsausgang tüchtig bergan. Auf dem Plateau zwischen Fleesensee und Müritz breitet sich das Land Fleesensee aus, Deutschlands größtes Ferienresort. Hier radelt man an den kurz geschorenen Rasenhügelchen von fünf Golfplätzen vorbei und passiert das Märchenschloss von Göhren-Lebbin. Von gegenüber dräut die Silhouette des Dorfhotels, ganz im Tele-Tubby-Stil. Eine heile Welt mit Wellnesszentrum, Robinsonclub und Yachtanleger. Wer hierher kommt, erhält Abenteuer und Erlebnis als Katalogprodukt, inklusive Bogenschießen und Drachenbootpaddeln am Strand. Um das Resort herum wartet das Abenteuer der mecklenburgischen Wildnis – gewissermaßen das Urlaubs­äquivalent aus natürlichem Anbau.

Das nächstgelegene Schlosstürmchen im zehn Kilometer entfernten Klink markiert die letzte Landmarke auf der Fahrradtour durch die Seenplatte durch das grüne Unbekannte. Hier stößt es auf das Blau der Müritz. Zum gegenüberliegenden Ufer sind es fünfzig Kilometer. Ein kleines Meer – die Bedeutung des slawischen Wortursprungs von „Müritz“ wird hier am deutlichsten. Die Strandkörbe vor dem Schlosshotel Klink und die Bettenburg des Müritzhotels nebenan unterstreichen den maritimen Anspruch.

Entlang des Uferweges gelangen Radwanderer zurück nach Waren, dessen fünfgeschossiges Wohnviertel am Ortseingang einen großstädtischen Eindruck macht – zumindest nach zwei Tagen im Grün, in sehr viel Natur, im ­„Sehr-schön“.

Fotos: Christin Drühl

Hier gibt es Tipps zu weiteren Fahrradtouren durch die Seenplatte und unseren Fahrradtouren Büchern für Mecklenburg und Brandenburg.

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Fahrradtour durch die Mecklenburgische Seenplatte
By |9,8 min read|1937 words|Published On: 12. Februar 2023|

Gänsetrupps ziehen als schnatternde Pfeilformation gen Süden. Aromatischer Pilzgeruch steigt aus den Moosteppichen der Kiefernwälder. Das Röhren der Hirschbullen dringt bis in die Dörfer. Der mecklenburgische Herbst betritt die Bühne für unsere Fahrradtour durch die Seenplatte.

Der Mitarbeiter der Tourismusauskunft in Waren nimmt eine Fahrradkarte aus dem Prospektständer. Gemeinsam wird die Radstrecke zwischen Waren und Krakow am See gesucht. „Hier lang“, zeigt der Mann im bordeauxroten Polohemd auf einen grünen Flecken in der Karte. „Sehr viel Natur. Sehr schön.“, kommentiert er.

Über dem handtellergroßen Gebiet auf der Karte steht in großen Buchstaben „Schwinzer Heide“. Mitten durch führt der 55 Kilometer lange Teil des Fernradwegs Berlin—Kopenhagen, eine der bekanntesten Fahrradtouren durch die Seenplatte. Bis nach Krakow gibt es kaum Ortschaften. Sogar Straßen und Wege sind spärlich. „Was gibt es dort Besonderes?“, fragt der Gast. Eine Kollegin vom Nachbarschalter ist jetzt auch  interessiert und blickt herüber. Auch sie würde wohl gern hören, welches Geheimnis es dort zu lüften gibt, zehn Kilometer nördlich von Waren. Eine Terra incognita – fremdes Land, selbst für den Fremdenservice.

Das waldeinsame Niemandsreich im Hinterland der Müritz. „Sehr viel Natur. Sehr schön.“ Die wenigen Worte sind wie ein Versprechen auf ein Abenteuer. Zwei Tage, eine 130 Kilometerrunde. Immerhin beruhigend, dass ein paar Dorfschenken auf dem Weg durch das dichte Grün liegen.

Jabel gegen Kogel bei Röbel

Beeilung ist geboten. Bis 15 Uhr muss die erste Teiletappe nach Damerow überwunden sein. In dem Dorf, eine knappe Radelstunde von Waren entfernt, werden die Wisente gefüttert. Den zottigen Urrindern, die um ein Haar in den 1950er Jahren ausgestorben wären, kommt man hier zum Greifen nahe. Von kleinen Tribünen aus beobachten die Gäste, wie sich die Herde aus dem Wald der Futterstelle nähert. Tagsüber durchstreifen die 35 kräftigen Tiere das Dickicht ihrer Halbinsel, dem Damerower Werder. Das 320 Hektar große Reservat existiert seit 1957 zwischen Kölpinsee und Jabeler See.

„Wir füttern die Herde nur, damit unsere Gäste etwas zu gucken haben“, sagt der Tierpfleger vom Wisentreservat nach der Fütterung. „Die finden in der Natur ja eigentlich genug.“ Familien und Rentner schauen über das Gatter und beobachten die Rangfolge in der Herde. Der Angst einflößende Bulle kommt als Erster an seinen Trog. An sechs weiteren Behältern postieren sich die nächst Stärkeren. Ganz zum Schluss trottet eine Kuh mit drei Kälbern im Schlepptau zu der Stelle, wo jeden Tag Wasser und Schrot verteilt werden. Der Wärter erklärt: „Im Winter holen wir die Wisente rein. Die Biester hauen sonst übers Eis ab.“ Seelenruhig widmet sich der Mann nach der Verteilung des Futters aus seinem Eimer, den Fragen aller Gäste.

Unterwegs auf einer Fahrradtour durch die Seenplatte im Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide. Seine Fläche beträgt 365 Quadratkilometer, knapp zwei Drittel davon bestehen aus Wald.

Unterwegs im Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide. Seine Fläche beträgt 365 Quadratkilometer, knapp zwei Drittel davon bestehen aus Wald.

Geheimtipp bei den Wisenten

Den schönsten und seltensten Blick auf die Herde gewinnt, wer sich im Morgengrauen aufmacht, erklärt ein Dorfbewohner aus Jabel, dem nächsten Dorf. Dazu muss man mit einem Kanu in die Nähe des schilffreichen Ufers paddeln. Im aufsteigenden Nebel kommen die Tiere zum Saufen. Eine unerhörte Beobachtung – beinahe „Sielmann-sublim“. In Jabel stehen sich eine Backsteinkirche und der geklinkerte Pfarrhof gegenüber. Ernst Reuter, der Plattdeutsch-Dichter, machte hier fünf Wochen Urlaub und besang Land und Leute. Seit damals scheint das Land in Dornröschenschlaf gesunken.

Mehr los ist auf dem Bolzplatz. Auf der Terrasse des Gasthauses Quisana hat man einen Logensitz. Tore fallen am laufenden Band. Es gibt Pflaumenkuchen. Selbst gebacken, das schmeckt man. Auch das Spiel unterhält köstlich. Der SSV Jabel empfängt an diesem Samstagnachmittag den SG Traktor Kogel, Kreisliga Mecklenburgische Seenplatte. Die Gäste führen 4:2, spielen aber mit einem Mann weniger. Jabel verkürzt. Noch 15 Minuten. Beide Trainer sind aus dem Häuschen. Wo liegt dieses Kogel eigentlich? „Bei Röbel“, erklärt die Wirtin. Auf der anderen Seite des Sportplatzes kreuzt eine Segelyacht. Zumindest die Lage des Stadions ist Champions League. Den Gastgebern hilft das nicht. Jabel verliert knapp geben Kogel bei Röbel.

Verführerische Pilze auf der Fahrradtour durch die Seenplatte

Hinter dem Ortsschild verlässt der Fernradweg das erste Mal den Asphalt. Auf großen Holzbohlen am Wegesrand steht „Naturpark Schwinzer/Nossentiner Heide“. Das unbekannte Grün auf der Karte ist erreicht. Schon nach wenigen Kilometern hat sich die Spur der Berlin-Kopenhagen-Markierung verloren. Verfahren. Sandiger Weg und dunkler, dichter Mischwald. Hierhin zieht man, um das Gruseln zu lernen. Schnell ist der Navigations­fehler entdeckt, dank der in Waren gekauften Karte. Einfach weiterfahren, durch tiefen Wald in harz-schwangerer Luft. Die Nebenwege, das ist mehr als beruhigend, sind erstaunlich gut mit Wegweisern gekennzeichnet.
Am sogenannten Bergsee verändert sich der verwunschene in einen zauberhaften Märchenwald. Auf einem Baumstumpf im Wasser will man stundenlang auf den Schwan warten, der zum anderen Ufer trägt. Doch es kommt nur die Dunkelheit und es heißt wieder Beeilung.

Mitten im Nirgendwo

Der nächste Punkt auf der Karte ist Malkwitz, eine Handvoll Häuser, wo sich einst zwei regionale Handelswege kreuzten und die Fuhrleute in der Straßenschenke tranken. Das einzig Bemerkenswerte am Malkwitz der Gegenwart ist das Ortsausgangsschild. „Nordpol“ steht dort als nächste Ortschaft angeschlagen. Wer nach Norden weiterfährt, kämpft sich bald auf nur noch einer Radspur durch moorastige Wiese. Nebenan ruht einer der großen Quellseen der Nebel, die 50 Kilometer stromabwärts in die Warnow mündet.

Die Sonne ist verschwunden, als sich das kleine Fahrradlicht einen Weg über das Straßenpflaster sucht. Quartier soll es erst ein Dorf weiter geben, doch aus den Häusern in Hohen Wangelin strömen Düfte, die den abendlichen Wanderer ins Schlingern bringen: in Speck und Zwiebeln gebratene Steinpilze, Maronen und Pfifferlinge. Leider öffnet sich keine Haustür mit Mütterchen, das den Fremden an den gedeckten Tisch bittet.

Zu Gast beim Krimischiftsteller

Im Gegenteil: Angekommen in Linstow, gilt es, um Nachtasyl zu flehen. Sämtliche Ferienzimmer sind an dem schönen Altweiberwochenende belegt. Einige Vermieter haben schon Saisonschluss. Torsten Dietzel, Herr des alten Gutshauses, schüttelt den Kopf. Im freundlichen Pastell seines Gastraums wird bei einem Spitzen-Menü der neue Schlachtplan für die Nächtigung überlegt. Weiterfahren zum Campingplatz in Krakow? Das sind noch einmal 15 Kilometer durch die Stockfinsternis. Gutsherr Dietzel hat eine bessere Idee und holt einen Bekannten aus dem Nachbardorf an die Strippe.

Fahrradtour durch die Seenplatte: Das Fachwerk-Gutshaus im Linstower Ortsteil Glave stammt aus dem 18. Jahrhundert, 1994 wurde es restauriert.

Das Fachwerk-Gutshaus im Linstower Ortsteil Glave stammt aus dem 18. Jahrhundert, 1994 wurde es restauriert.

Über einen Feldweg geht es entlang eines Sees auf unserer Fahrradtour durch die Seenplatte, der in Sternenglanz getaucht ist. Fünf Häuser und ein kläffender Hund kommen in Sicht, soweit die Nacht es erkennen lässt. Der Empfang im kleinen Gutshof ist herzlich. Das Haus steckt voller alter Bücher und in der Dachmansarde findet sich ein frisches Federbett. Am nächsten Morgen lüftet sich das Geheimnis der vielen Bücher. Hier wohnen die Nachfahren eines mecklenburgischen Schriftstellers, der auf dem Gehöft vor Jahrzehnten seine Jagd- und Kriminalromane aufschrieb. Die Zeit drängt. Ein Wiedersehen mit den Bewohnern wird verabredet. Nie hätte man ihre Gastfreundschaft im spröden Mecklenburg erwartet.

Inzwischen rollt der Fernradweg wieder unter dem Reifen auf widerstandsarmen Asphalt. Vorbei an Mecklenburgs mächtigster Buche lädt ein Aussichtsturm wenige Ecken weiter zum Stopp ein. Der sogenannte Paradiesblick eröffnet sich über den inselreichen Krakower See. Bis nach Krakow wäre es jetzt nur ein Stündchen. Aber hinter der einstigen Postkutschenstation in Serrahn biegt das Durchbruchstal der Nebel ab. Wer die Zeit hat, sollte zumindest der kleinen Waldschlucht bis nach Kuchelmiß folgen. Im Scheunenverkauf an der alten Wassermühle gibt es Zünftiges. Gestärkt mit einem Glas Würzfleisch geht es zurück auf den Fernradweg.

Honeckers Taiga

Als Krakow erreicht ist, erkennt man an den Bootshäusern, Kfz-Kennzeichen und Eisbecherpreisen sofort, dass die Wildnis inzwischen durchmessen ist. Krakow ist der westliche Zivilisationsrand am mecklenburgischen Outback. Bis hier hin haben sich die Geradlinigen, Fleißigen und Allzu-Normalen vorgebaut mit ihren Dampfer­ablegern, Strandpromenaden und einem Sternekoch. Einst bauten sich die Güstrower und Rostocker hier ihre Datschen. Jetzt sind es bunte Bungalows im skandinavischen Ferienstil.

Hinter Krakow am See führt unsere Fahrradtour durch die Seenplatte über einen Straßendamm zwischen Krakower Unter- und Obersee wieder an das Ostufer. Dort, wo Natur und die Kultur seit Jahrhunderten um die Vormacht ringen. Derzeit gewinnt die Natur wieder die Oberhand. Viele Häuser verfallen. Gewerbe sieht man kaum.

Einst hatte der Mensch die Landschaft ganz im Griff. Räucherte aus den Bäumen Teer und Holzkohle. Schmolz Glas aus Quarz und Kalk. Schafe und Rinder weideten die Rodungsflächen. Ein Kloster führte beflissen die Geschäfte der Region. Noch vor 300 Jahren war diese Landschaft keineswegs so gottverlassen, wie sie heute wirkt. Doch die Waldmanufakturen verloren im 19. Jahrhundert an Bedeutung.

Auf dem Fernradweg in Jabel, ab hier heißt es: Asphalt? Fehlanzeige. Beschilderung im Naturpark Nossentiner Schwinzer Heide

Auf dem Fernradweg in Jabel, ab hier heißt es: Asphalt? Fehlanzeige.

Schwinzer Heide

Die Landschaft wurde so einsam, dass Erich Honecker hier eines seiner Jagddomizile unterhielt. In einem Revier, dass für DDR-Verhältnisse fast so groß anmutet wie die Taiga. Sogar im Drewitzer See, an dem Honeckers ehemalige Forstresidenz steht, soll sein Staatsschutz Kameras installiert haben. Die ganze Schwinzer Heide war für den ersten Mann der DDR abgeriegelt, auch wenn dieser höchst selten anreiste.

Von dieser Vergangenheit kann einer der Ranger des Naturparks erzählen. Ihn und seine Kollegen trifft man im Karbower Meiler. Hier, an der Nordspitze des Plauer Sees, befindet sich der zentrale Informationspunkt des Naturparks Schwinzer Heide. Eine ausführliche Ausstellung begleitet die Naturtouristen. Wer etwas über den großen grünen Flecken auf der Karte wissen will, ist hier am richtigen Ort. Hier ist die dafür zuständige Stelle.

Auf Empfehlung des Parkrangers führt die Fahrradtour durch die Seenplatte weiter am östlichen Ufer des Plauer Sees bis nach Lenz. Für einen kurzen Halt lohnt es sich, bei den Fischern in Alt Schwerin vorbeizuschauen. Hier gibt es geräucherte Forelle aus dem See. Aber auch die entsprechenden Köderwürmer zum Selbstangeln.

Zwischen Malchow und Klink

Über Malchow, eine Inselstadt mit einmaligem Orgelmuseum, geht es am Ortsausgang tüchtig bergan. Auf dem Plateau zwischen Fleesensee und Müritz breitet sich das Land Fleesensee aus, Deutschlands größtes Ferienresort. Hier radelt man an den kurz geschorenen Rasenhügelchen von fünf Golfplätzen vorbei und passiert das Märchenschloss von Göhren-Lebbin. Von gegenüber dräut die Silhouette des Dorfhotels, ganz im Tele-Tubby-Stil. Eine heile Welt mit Wellnesszentrum, Robinsonclub und Yachtanleger. Wer hierher kommt, erhält Abenteuer und Erlebnis als Katalogprodukt, inklusive Bogenschießen und Drachenbootpaddeln am Strand. Um das Resort herum wartet das Abenteuer der mecklenburgischen Wildnis – gewissermaßen das Urlaubs­äquivalent aus natürlichem Anbau.

Das nächstgelegene Schlosstürmchen im zehn Kilometer entfernten Klink markiert die letzte Landmarke auf der Fahrradtour durch die Seenplatte durch das grüne Unbekannte. Hier stößt es auf das Blau der Müritz. Zum gegenüberliegenden Ufer sind es fünfzig Kilometer. Ein kleines Meer – die Bedeutung des slawischen Wortursprungs von „Müritz“ wird hier am deutlichsten. Die Strandkörbe vor dem Schlosshotel Klink und die Bettenburg des Müritzhotels nebenan unterstreichen den maritimen Anspruch.

Entlang des Uferweges gelangen Radwanderer zurück nach Waren, dessen fünfgeschossiges Wohnviertel am Ortseingang einen großstädtischen Eindruck macht – zumindest nach zwei Tagen im Grün, in sehr viel Natur, im ­„Sehr-schön“.

Fotos: Christin Drühl

Hier gibt es Tipps zu weiteren Fahrradtouren durch die Seenplatte und unseren Fahrradtouren Büchern für Mecklenburg und Brandenburg.